Roman
|
Poetische Erzählungen zwischen Mythologie und Alltag
Ilse Nekut, ZehnEins
55 Variationen zu Menschen und Musen
Roman |
212 Seiten, 14 x 20,2 cm
Broschur
€ 17,90/sfr 31,30
ISBN 978-3-85306-022-3 |
Über die Erzählungen |
In ZehnEins werden fantastische, skurrile und poetische Geschichten
erzählt, in deren Mittelpunkt einzelne Menschen stehen – Frauen und Männer
unterschiedlichen Alters aus verschiedenen Zeiten und Lebenswelten. Darüber
hinaus eröffnen sich den LeserInnen auch die Welten der Musik, der Mythologie
und der Physik. Die 55 Geschichten sind in eine mathematische Struktur eingebettet,
die durch die thematischen Zusammenhänge führt, und obwohl die einzelnen
Texte unabhängig voneinander existieren, begegnet man manchen Figuren in
anderen Zusammenhängen wieder. So entstehen verblüffende Querverbindungen
und ungewöhnliche Perspektiven. |
Leseprobe
|
Franz verfügte über einen ausgeprägten, vielleicht ins Hundertfache gesteigerten
Geschmackssinn. Er kannte die Ursachen nicht, denn er hatte sich ja keinem
Menschen mehr anvertraut, auch keinem Arzt. Aber vielleicht hatte er auf
seiner Zunge eben zwei Millionen Geschmacksknospen statt der üblichen zwei
Tausend, oder seine Rezeptoren waren ungewöhnlich ausgeprägt. Möglicherweise
waren auch seine Nervenfasern, die die Impulse in sein Gehirn leiteten,
besonders sensibel. Franz wusste all das nicht, aber er wusste sicher, dass
er geringste Spuren von Geschmacksstoffen erkennen und zuordnen konnte,
auch wenn die Substanzen, die nur er allein zu schmecken vermochte, in unwägbar
kleinen Mengen den Speisen anhafteten, die er zu sich nahm. Es war manchmal
schwierig, mit dieser Fähigkeit zu leben. Nicht die Hauptbestandteile eines
Gerichts waren das Problem für Franz, sondern jene wenigen Moleküle, die
eigentlich nicht dazu gehörten, die hineingerutscht waren beim Ernten des
Gemüses, beim Melken der Kuh, die die Milch für den Käse geliefert hatte,
oder beim Abwiegen des Mehls für das Brot. Wenn Franz, der oft kochte, ein
Stück Butter in der Pfanne zerließ, dann wusste er, dass er danach am Tisch
schmecken würde, aus welchem Metall sein Buttermesser erzeugt worden war.
Trank er Most, so schmeckte er den Farbstoff des Tuchs, in dem der Bauer
die Birnen eingesammelt hatte, und aß er ein Kalbsschnitzel, dann fand er
darin die Gräser der Weide wieder, auf die das Tier getrieben worden war.
Verwirrende Geschichten begannen danach in seinem Kopf abzurollen. Vom Metall
des Messers flogen seine Gedanken in die Besteckfabrik mit ihren müden Fließbandarbeiterinnen.
Der Farbstoff des Birnentuchs erinnerte ihn an ein Kleid von ähnlicher Farbe,
das Hilde als junge Frau getragen hatte, und die Gräser der Kuhweide, die
er im Schnitzel erkannte, erfüllten ihn mit Wehmut. Er hatte, als er noch
klein war, seine Katze auf solch einer Weide tot im hohen Gras gefunden.
Franz verlor sich in diesen Abschweifungen und Erinnerungen, und manchmal
war er nahe daran, nichts mehr an seine Zunge zu lassen. Noch lebte er aber
gern. Und auch wenn es vorkam, dass er bei einem Schluck Kaffee den Schweiß
der Plantagenarbeiter herausschmeckte, genoss er das Trinken, das Essen
und sein altgewordenes Leben. |
Ilse Nekut
|
Über die Autorin
ZehnEins ist das Ergebnis des Wunsches, einfache kleine Geschichten
zu erklären: Poetische, phantastische, manchmal irreale Geschichten,
die von Menschen handeln, aber auch von der Welt der Musik, der Mythologie
und der Physik.
Außerdem sollten es Geschichten werden, die in eine äußere,
mathematische Struktur eingebettet sind, und ihr Zusammenhang sollte
sich durch diese mathematische Struktur ergeben.
Ich mag das Spielen mit verborgenen Mustern und Regelmäßigkeiten,
und so sollten es kurze Geschichten werden, die jede für sich lesbar
sind, aber dennoch miteinander korrespondieren. (Ilse Nekut)
|
|